Wasser. Oder warum die Schule der Zukunft vielfältig ist.
In seiner Rede vor den Abschluss Student*innen des Kenyon College erzählt der Schriftsteller David Foster Wallace die Geschichte von zwei Fischen im Wasser. Während sie sich mit dem Strom treiben lassen, schwimmt ein Fisch in die entgegengesetzte Richtung an ihnen vorbei, nickt ihnen zu und sagt „Morgen Leute, wie ist das Wasser?“ Die beiden Fische nicken und lassen sich noch ein Stück treiben, bevor der eine den anderen anschaut und fragt „Was ist Wasser?“
Unsere Leitkultur mit ihren Bildern und Botschaften bestimmt, wie wir die Welt betrachten. Bewusst sind wir uns ihrer selten. Sie ist einfach da, wie Wasser für Fische. Wenn wir uns treiben lassen, selektieren wir, was wir sehen und wie wir das Gesehene bewerten, ohne es zu merken.
Aber Leitkultur funktioniert nur im Singular. Es gibt keine Leitkulturen. Sie ist von “dem Teil der Gesellschaft konstruiert, der die Macht hat, das Narrativ zu bestimmen.”¹ Dieser konstruiert eine Norm. Alle, die davon abweichen, sind die Anderen.
Diese Menschen werden als fremd gelesen und erhalten konstant Signale, dass sie nicht wirklich dazu gehören. Die Erfahrung des Anders-gemacht-Werdens ist demütigend, schmerzvoll und ermüdend. “Viele, die sich in einem abwertenden Klima ihren Alltag und ihre Normalität erkämpfen müssen, finden gar nicht in eine gesamtgesellschaftliche Erzählung hinein und wenden sich ab.”²
Dabei ist Deutschland zweifellos eine postmigrantische Gesellschaft. 2022 hat knapp jeder Dritte Deutsche Bürger eine Migrationsgeschichte. Von den unter 18-Jährigen mit Migrationshintergrund sind 79 Prozent in Deutschland geboren. Davon haben 85 Prozent die deutsche Staatsangehörigkeit. Fast alle Jugendlichen, die hierzulande fremd gelesen werden, sind Deutsche. Das, was als Leitkultur für normal angesehen wird, blendet ihre Lebensrealitäten aus.
Die X-Schule tritt an gegen die Marginalisierung von Menschen, die integraler Bestandteil unserer Gesellschaft sind. Es ist höchste Zeit, die postmigrantische Perspektive als gesamtgesellschaftliche Perspektive zu denken.
Leider müssen wir feststellen, dass Vielfalt gerade beim System Schule zu kurz kommt: Schulstruktur und -kultur, Lerninhalte und -methoden, Lehrerinnen und Lernmaterial, Fortbildung und Haltung, Sprachen, Feiertage und Rituale — all diese Dimensionen von Bildung entspringen der Leitkultur. Unter echter Vielfalt verstehen wir, dass die gesamte Bildungslaufbahn der Schüler*innen von einer diversen Gemeinschaft für eine diverse Gesellschaft in einer intersektional kritischen Bildungsstruktur stattfindet.
Echte Vielfalt ist eine Herausforderung. Echte Vielfalt kann unbequem werden. Es entstehen Spannungen, Irritationen, Ängste. Damit umzugehen zu lernen, ist unsere Herausforderung. Die Erfahrung von Vielperspektivigkeit, die Kommunikation und Kollaboration jenseits nationaler, religiöser und kultureller Grenzen, der gewaltlose Umgang mit Meinungsverschiedenheiten und die menschliche Verbindung über konstruierte Identitäten hinaus — all das ist essentiell für Kinder zukünftiger Generationen. Echte Vielfalt ist eine riesige Chance, um die Weichen zu stellen für das menschliche Zusammenleben in einer global vernetzten Welt.
Online verlieren nationale Grenzen und Identitäten an Bedeutung. Offline sind die größten Herausforderungen der Menschheit (z.B. Klimawandel, Umweltzerstörung, Pandemien, Künstliche Intelligenz, Nuklearkrieg) länderübergreifender Natur. Eine Welt, in der Gemeinschaften sich klar gegeneinander abgrenzen, ist keine ernsthafte Option mehr. “Gespräche, die über Grenzen hinaus geführt werden, können ein Genuss oder eine Qual sein — je nach Umständen. Aber eines sind die meisten ganz gewiss: unvermeidlich.”
Die Anerkennung der Vielfalt von Lebensrealitäten erweitert unseren Horizont um den Konjunktiv, wir nehmen nicht nur den Ist-Zustand wahr, sondern realisieren, dass es auch anders sein könnte. So wird uns erst der Rahmen bewusst, in dem wir agieren, die Brille, durch die wir die Welt sehen, die unbewussten Denkmuster und das instinktive Mitschwimmen im Mainstream. Wir überprüfen kulturelle, familiäre, mediale Voreinstellungen. Womit bin ich einverstanden? Wogegen will ich ankämpfen? Wer bin ich und wer möchte ich sein? Mit den Worten von David Foster Wallace: Wir lassen uns nicht bloß treiben. Wir wissen, was Wasser ist.
So wird die X Schule zu einem Ort, an dem alle Menschen dazugehören und lernen, Realitäten aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Statt dem Echokammer-Effekt einer Gruppe von Gleichgesinnten wird eine demokratische Diskussionskultur der Vielfalt kultiviert. Aus ihr heraus lernen alle Parteien, sich zu definieren und öffnen sich, um die Geschichte der Anderen in sich hineinzulassen. Eine Öffnung, die die Vielschichtigkeit des Lebens sichtbar werden lässt. Eine Öffnung, die eine des Kopfes und des Herzens gleichermaßen ist. Eine Öffnung, die uns in unserem Menschsein verbindet.
Dies ist unser Manifest der Vielen. Die postmigrantische Perspektive wird zur Weltperspektive, die Schülerinnen zu Weltbürgerinnen, die X-Schule zur Welt-Raum-Schule.